HEWI MAG / Barrierefreiheit

„Barrierefreiheit finden alle gut“

Öffentliche WCs gehören zu unserem Alltag dazu. Sie sind für uns eine Selbstverständlichkeit und sind an vielen Orten und in vielen Gebäuden einfach zu finden. Doch nur in seltenen Fällen sind sie barrierefrei und für RollstuhlfahrerInnen zugänglich. Aus eigener Betroffenheit heraus haben sich Claudia und Bernd Hontschik dieser Thematik angenommen und ein Buch geschrieben. Im Interview schildern sie ihre Erfahrungen mit dem Thema Barrierefreiheit in Deutschland und geben Einblicke in den Alltag von Rollstuhlnutzenden.

CLAUDIA & BERND HONTSCHIK

HEWI: Liebe Frau Hontschik, lieber Herr Dr. Hontschik, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Interview genommen haben. Direkt zu Beginn die Frage: Wie ist Ihrer Meinung nach die aktuelle Situation hinsichtlich Barrierefreiheit in Deutschland?

Claudia & Bernd Hontschik: Wir haben von der Barrierefreiheit in Deutschland keinen guten Eindruck. Das fängt in unserer eigenen Stadt an, immerhin eine Großstadt, in der man aber nur in einer überschaubaren Zahl von Restaurants eine Toilette für RollstuhlfahrerInnen vorfindet. Die meisten öffentlichen Plätze sind gepflastert, was eine Fahrt mit dem Rollstuhl zur Tortur macht. Zwei schmale glatte Parallelstreifen in Kinderwagen-Rollstuhl-Breite wären die Lösung, aber die gibt es fast nirgends. Ordentlich abgesenkte Bordsteine sind die Ausnahme, und die Bürgersteige sind teilweise so defekt, dass man mit dem Rollstuhl auf die Straße ausweichen muss. Sie sind außerdem an jeder Einfahrt abgeschrägt, was gut ist für Autos, aber den Rollstuhl unangenehm abkippt. Reisende berichten von unüberwindbaren Hindernissen in der deutschen Bahn, von unerreichbaren Bahnsteigen und defekten, verschlossenen Rollstuhl-Toiletten in den Zügen. So ließe sich noch viel aufzählen, aber es läuft in der Gesamtschau immer auf das Gleiche hinaus: Von Barrierefreiheit sind wir in unserem Land noch sehr weit entfernt.

 

HEWI: Gibt es vielleicht dennoch Bereiche, in denen Barrierefreiheit aktuell gut umgesetzt wird? Und in welchen Bereichen gibt es hingegen besonders hohen Nachholbedarf?

Claudia & Bernd Hontschik: Es sind die Lobbys der großen Hotels, die uns da zuerst einfallen. Dort sind fast immer schwellenlos glatte Böden und gut konfigurierte Toiletten zu finden. In vielen Museen ist auch fast immer Schwellenlosigkeit bzw. sind Aufzugseinrichtungen zu finden, manchmal auch kleine Hebebühnen, aber zur Barrierefreiheit würde auch gehören, dass man die Exponate vom Rollstuhl aus sehen kann. Das ist sehr oft nicht gegeben. Der größte Nachholbedarf besteht zum einen im öffentlichen Raum, auf den gepflasterten Straßen, den Behörden ohne Rampen und Aufzüge. Zum anderen steht allein das riesige Defizit an barrierefreiem Wohnraum einer Inklusion im Wege, die diesen Namen verdient. In dem „Behindertengleichstellungsgesetz“, das der Deutsche Bundestag 2016 beschlossen hat, wurde die gesamte private Wirtschaft vom gesetzlichen Zwang zur Barrierefreiheit ausgenommen. Die damalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, äußerte in ihrer Rede die Hoffnung, „dass das neue BGG die private Wirtschaft zum Mitmachen und Nachahmen“ anregen möge. Ein frommer Wunsch und eine schwere Niederlage im Kampf für Barrierefreiheit.

WC-Bereich: Darstellung nach DIN 18040-1

HEWI: Hat das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz von 2021 in Ihren Augen eine Verbesserung gebracht?

Claudia & Bernd Hontschik: Nicht wirklich, es ist ein unausgegorenes Stückwerk voller Ausnahmeregelungen und Schlupflöchern, ohne eine Kontrollinstanz, die mit Strafmöglichkeiten wie Bußgeldern ausgestattet ist. Zwischen dem 22. April und dem 9. Mai 2021, direkt vor der Verabschiedung dieses Gesetzes, ist Sigrid Arnade von der Berliner Stiftung Lebensnerv, selbst eine Rollstuhlfahrerin, mit ihrem Mann Günter Heiden durch Deutschland gefahren. Sie wollten mit ihrer Aktion auf die Lücken und Defizite des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes aufmerksam machen. Sie berichtet: „Wir waren in 16 Städten, haben 33 Interviews geführt und sind etwas über 4.000 km gefahren. Dabei haben wir unter anderem acht gegenwärtige und zwei vermutlich zukünftige Bundestagsabgeordnete, fünf Landesbehindertenbeauftragte, den Bundesbehindertenbeauftragten, Schlüsselpersonen von drei Zentren für Selbstbestimmtes Leben, einen Staatssekretär, den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit und eine Wissenschaftlerin interviewt. Es bestand eine große Bereitschaft, sich mit uns zu treffen und zu unterhalten. Barrierefreiheit finden alle gut. Auffällig war bei den Interviews die hohe Kompetenz der befragten Betroffenen und im Gegensatz dazu eine Haltung des Abwiegelns und Schönredens bei den Befragten aus Regierung und den Koalitionsfraktionen. Letztere verwiesen bei kritischen Nachfragen darauf, dass es sich bei dem gegenwärtigen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nur um einen ersten Schritt handele und man die privaten Anbieter von Waren und Dienstleistungen für Barrierefreiheit vor allem sensibilisieren müsse. Auf die Nachfrage, warum das ausgerechnet jetzt funktionieren solle, obwohl es doch schon in den letzten 30 Jahren nicht geklappt habe, wusste aber auch niemand eine Antwort.“

 

HEWI: Welche Herausforderungen begegnen Ihnen im Alltag?

Claudia & Bernd Hontschik: Das sind die Schwellen, immer wieder die Schwellen, und die katastrophalen Zustände des Bodens, des Untergrundes, ganz zu schweigen von Stufen und Treppen und viel zu steilen Rampen.

 

HEWI: Und was frustriert Sie dabei zurzeit am meisten?

Claudia & Bernd Hontschik: Dass es lange schon bekannt ist, dass es für das alles vorbildliche Lösungen gibt, dass aber kaum etwas passiert, um diese Lösungen umzusetzen.

Nur ein Beispiel: In Bad Homburg hat man schon vor fünf Jahren das holprige, kaum befahrbare Pflaster vor dem Landgrafenschloss geschliffen und neu verfugt, und nun können auch Menschen mit Beeinträchtigungen barrierefrei in das Bad Homburger Schloss gelangen.1 Aber nicht nur in unserer Stadt Frankfurt scheint man von dieser Technik noch nichts gehört zu haben. Barrierefreiheit bleibt die Ausnahme und wichtige Plätze und Fußgängerzonen sind nach wie vor holprig gepflastert.

Sogar Altstädte lassen sich barrierefrei verändern, wenn man es nur will. Ein bekanntes Beispiel ist die niederbayerische Stadt Abensberg, wo man neues Pflaster verlegt, Bordsteine beseitigt und mit Blindenstreifen versehen, Verkehrsschilder abmontiert und den barrierefreien Umbau aller öffentlichen Gebäude, der Schulen und Kindergärten und des Bahnhofs Schritt für Schritt vollzogen hat.2 Hier wurde die stellvertretende Bürgermeisterin aktiv, selbst eine Rollstuhlfahrerin, die die ganze Stadtregierung in Rollstühle gesetzt hat, und nach einer solchen „Stadtführung“ hatte sie alle hinter sich, Barrierefreiheit zu realisieren. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass dort Barrierefreiheit erreicht werden kann, wo sich jemand dafür einsetzt. Von selbst geschieht nichts – leider.

1 https://www.fnp.de/lokales/hochtaunus/bad-homburg-ort47554/kopfsteinpflaster-landgrafenschloss-wird-geebnet-10353631.html.

2 https://www.abensberg.de/buergerservice/abensberg-macht-schule-aktuelles-13398.

 

HEWI: Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus? Wie sind dort Ihre Erfahrungen?

Claudia & Bernd Hontschik: Darüber wissen wir nur sehr wenig, so viel waren wir in den vergangenen Jahren nicht unterwegs. In Portugal haben wir gestaunt, wie viele Restaurants für RollstuhlfahrerInnen zugänglich sind, das ist dort gesetzliche Vorschrift. In Italien haben wir es erlebt, dass wir in manchen Museen sogleich freundlich empfangen und begleitet wurden. Manchmal genießt man mit dem Rollstuhl sogar kleine Vorteile. Beim Besuch eines kleinen historischen Museums in der Toskana ging eine Angestellte mit uns um das Haus herum, holte einen Lastenaufzug herunter, und oben angekommen fanden wir uns zunächst nicht im Museum, sondern in der Museumswerkstatt wieder. Diese zu durchfahren und den Handwerkern bei der Arbeit zuschauen zu dürfen war mindestens so interessant wie das Museum selbst. Den Besuch der Sixtinischen Kapelle wollten wir schon streichen, als wir die riesige, viele hundert Meter lange Schlange vor dem Eingang sahen. Der Taxifahrer aber winkte ab, fuhr an der Schlange vorbei direkt zum Eingang, wo uns ein Angestellter in Empfang nahm und uns zu einem separaten Eingang begleitete. Aber in den Hotels, auch in den Häusern großer internationaler Hotelketten, ist man in den Zimmern mit dem Rollstuhl zumeist verloren. Oft schon haben wir ein „barrierefreies“ Zimmer gebucht und hatten dann nur noch zu kämpfen: in Verona mit Teppichböden mit so hohem Flor, dass der Rollstuhl steckenblieb, in Madeira mit zu schmalen Türen, zu wenig Bewegungsfreiheit und fehlenden Griffen, in Basel mit nicht unterfahrbaren Waschbecken usw. Von Freunden hören wir, dass Abu Dhabi ein „Paradies“ für Menschen mit Behinderungen sei, aber da haben wir keine eigenen Erfahrungen.

 

HEWI: Haben Sie den Eindruck, dass sich in Sachen Barrierefreiheit etwas zum Positiven verändert?

Claudia & Bernd Hontschik: Positive Veränderungen sehen wir in unserer Stadt zum Beispiel an den aufwändigen Umbauten mit Rampen an Straßenbahnhaltestellen und Aufzügen zu den U-Bahnsteigen. Punktuell finden sich immer wieder solche erfolgreichen Anstrengungen, Barrierefreiheit herzustellen, aber die UN-Behindertenrechtskonvention betrifft eigentlich das ganze gesellschaftliche Leben umfassend. Da sieht es weniger positiv aus, da überwiegen Sonntagsreden, viele Absichtserklärungen und verständnisvolle Bekundungen. Hoffnungsvoll stimmen uns die vielen Initiativen, angefangen von der Aktion Mensch bis zu den Sozialhelden von Raul Krauthausen.

 

HEWI: Wer steht Ihrer Meinung nach in der Verantwortung, etwas in dieser Hinsicht zu verändern?

Claudia & Bernd Hontschik: Nachdem 2009 in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert worden ist, stehen BauherrInnen, StadtplanerInnen, ArchitektInnen, städtische Ämter wie Straßenbau oder Grünflächenbewirtschaftung, Ortsbeiräte und lokale PolitikerInnen in der Pflicht, Barrierefreiheit zu realisieren. Wir sehen aber oft, dass die Bestimmungen gar nicht beachtet und nicht eingehalten werden.

 

HEWI: Was können wir als Unternehmen, das barrierefreie Produkte entwickelt, dafür tun?

Claudia & Bernd Hontschik: Uns scheint, dass Sie schon sehr viel für Barrierefreiheit tun, indem sie beispielsweise Produkte für den ganzen Sanitärbereich entwickelt haben. Sie machen Werbung dafür mit instruktiven Broschüren und Videos, womit Sie ja auch deutlich machen, dass man fast alle Probleme lösen kann, wenn man es nur will. Noch mehr Innovationen, noch mehr Informationen, noch mehr Fortbildungen, das können Sie tun, mehr aber eigentlich nicht, denn in die Realität umsetzen müssen das Andere.

 

HEWI: Wie sieht für Sie die ideale barrierefreie Toilette aus?

Claudia & Bernd Hontschik: In eine barrierefreie Toilette sollte der Zugang leicht sein, am besten mit einer elektrifizierten Schiebetür. Eine barrierefreie Toilette muss zuallererst groß sein. Um mit einem Rollstuhl zu manövrieren, braucht man ausreichend Platz. Die Toilette muss höhenverstellbar und an mindestens einer Seite ganz frei stehen, beidseits müssen Stützklappgriffe angebracht sein. Die Spülung muss einen erreichbaren Auslöseknopf haben. Der Waschtisch muss höhenverstellbar, unterfahrbar und der Wasserhahn muss problemlos erreichbar sein. Abfalleimer sollten sich problemlos öffnen und schließen. Erreichbare Wandhaken oder Ablagen für Mäntel, Jacken und Taschen dürfen auch nicht fehlen. Eine Klappliege zur Versorgung von Schwerbehinderten gehört auch zur Grundausstattung. Das alles ist umfassend in der DIN-Norm 18949-1 und der VDI-Richtlinie 6000 zu finden (Seite 53/54 in unserem Buch). Es müsste nur umgesetzt werden. In unserem Buch findet man ein Kapitel mit der Überschrift „Juwelen“, wo wir besonders gelungene Rollstuhl-Toiletten vorstellen, die dem Ideal nahekommen.

Planungsempfehlung für Schiebetüren

HEWI: Erzählen Sie gerne ein bisschen mehr zur Hintergrundgeschichte Ihres Buches „Kein Örtchen. Nirgends“. Was war Ihre Intention? Wie war die Resonanz und hat sich – in den betroffenen Locations – etwas zum Positiven verändert?

Claudia & Bernd Hontschik: Wir haben uns früher, als wir beide noch laufen konnten, auch nie mit Barrierefreiheit beschäftigt, bis wir betroffen waren. Seitdem haben wir immer wieder schlechte Situationen mit Rollstuhltoiletten erlebt. Wenn auf einer Toilettentür das Rollstuhlzeichen steht, heißt das leider noch lange nicht, dass dahinter alles stimmt. Deswegen wollten wir mit unserem Buch mal alle mitnehmen hinter diese Tür, die normalerweise niemand aufmacht. Der Gedankenlosigkeit gegenüber den alltäglichen Problemen von Menschen mit Behinderungen wollten wir etwas entgegensetzen. Und wir wollten trotzdem auch ein freundliches und unterhaltsames Buch machen. Wir haben nur positive Resonanz erhalten. Es gab eine Reihe von sehr positiven Rezensionen. Freunde und Bekannte haben uns berichtet, dass erst unser Buch ihnen die Augen geöffnet hat, und dass sie heute in Restaurants, Museen oder bei Veranstaltungen immer auch einen Blick darauf werfen, ob wir mit dem Rollstuhl dabei sein könnten. Sie sind dann selbst überrascht davon, dass das meistens nicht geht.

Wir wissen immerhin von einer erfreulichen Änderung: Wir haben eine große Überraschung erlebt, als wir vor einiger Zeit wieder in unserem Schauspielhaus waren. Der dortigen Toilette hatten wir in unserem Buch ja ein ganzes Kapital gewidmet („Pirouetten im Schauspiel“, S. 14 ff.). Die extrem behindernde Türkonstruktion, die zur falschen Seite aufging und im Innenraum komplizierte Bewegungen nötig machte, war inzwischen durch eine elektrifizierte Schiebetür ersetzt. Damit war das Problem gelöst. Ein echter Lichtblick.

 

HEWI: Vielen Dank für Ihre Zeit und den sehr offenen, konstruktiven Austausch, liebe Frau und lieber Herr Dr. Hontschik!

 

 

Über Bernd und Claudia Hontschik

Claudia Hontschik wurde im Jahr 1953 geboren und studierte in Marburg und Frankfurt am Main Pädagogik. Sie war im Projekt „Kita 3000“ der Stadt Frankfurt mit Kindern sowie anschließend als Fortbildungsreferentin tätig. Daraufhin studierte sie in Kassel Supervision und bildete sich zur systemischen Beraterin weiter. Seit 1998 ist sie freiberuflich tätig. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Frankfurt am Main und hat zwei erwachsene Kinder.

Dr. med. Bernd Hontschik wurde 1952 in Graz geboren und war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Städtischen Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 mitten in Frankfurt in eigener chirurgischer Praxis tätig. Hontschik ist Autor von „Körper, Seele, Mensch“, Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag und Kolumnist der Ärztezeitung und der Frankfurter Rundschau.

VORGESTELLT: KEIN ÖRTCHEN. NIRGENDS.

Das Buch „Kein Örtchen. Nirgends“ von Claudia & Bernd Hontschik nimmt die Leser mit hinter die Tür des Rollstuhlzeichens in die öffentlichen barrierefreien WCs. Eine Tür, die in der Regel nur von Betroffenen geöffnet wird. 

Das Buch soll auf die Missstände in öffentlichen barrierefreien WCs aufmerksam machen und die Probleme von RollstuhlfahrerInnen in den Vordergrund stellen. Erzählt wird von eigenen Erfahrungen, häufigen Problemen und positiven sowie negativen Beispielen. 

Die AutorInnen haben damit ein unterhaltsames Werk geschaffen, welches bestimmt, aber dennoch mit einem kleinen Augenzwinkern auf die Probleme rund um das öffentliche barrierefreie WC schaut.

 

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